Besuch einer kleinen russischen Kirche in Moskau. Juni 1994.

 

 

 

 

 

Der Fuß Gottes schaute aus der Ikone heraus. Die Lippen der Gläubigen küßten ihn. Den Fuß Gottes, der ohne Schatten einfach so aus der Ikone herausragte. Direkte Berührung. Gnade. Kraft. Und aller Wodka, aller Knoblauch, aller Essiggurkengeruch verschwand aus dem Mund und es zog ein die Herrlichkeit des Herrn. Helligkeit überzog das Gesicht. Und dem Lahmen, der sich nicht bewegen konnte, schien von Stern zu Stern die Entfernung leicht zu überwinden und in den Augen der Alten, die das Leben um jegliche Liebe betrog, strahlte die unberührte Kraft einer Jugend. Frische Birkenholzzweige, Reisig streute man auf die kalten Fliesen der Kirche, um die Ankunft des Herrn zu feiern. Tief lag man auf dem Boden ob solcher Herrlichkeit des Herrn und die Gesänge schwebten  in der  weihraucherfüllten  Luft wie stillstehende Vögel mitten im Flug. Gebete stumm legten sich um die Lippen mitten im Gesang. Und wie die massenhaften dünnen gelbfahlen und honigfarbenen  Kerzenstäbchen sich drängten vor den von ihnen im Rauch geschwärzten heiligen Bildern in kreisrunder Enge ihr Flackern, das in dem engen gewölbten Dunkel der kleinen Kirche stets ein zuckendes Flammenmeer blieb, das in einzelnen Kerzen jedoch  mitunter frühzeitig verstummte und kalt erlosch. Dochte mit unnütz geworden Restkerzenstümpfe, die eine flinke Hand schnell von der Messingplatte mit ihren Haltern abzog und einsammelte, um neuer Anbetung und Verehrung Platz zu machen, die in der Nähe des Eingangs an einer Kasse schon die abgegriffenen Rubelscheine aus der Tasche zog, um bei einer völlig unbeteiligten Kassiererin neuen Wachs zu erstehen und anzuzünden.  In diesem Spiel von Dunkel und Hell, in dem die Gesichter Tausender von Heiligen zu glühen schienen, aber auch Teufels- und Drachenfratzen, brannte das Leben des einzelnen ab, sekundenschnell, egal aus welcher Modernität, aus welcher Tiefe oder Flachheit er kam, aus welcher Gottlosigkeit auch immer, welche Banden ihn auch umschlungen, die der Liebe, der Gier oder des Hasses, kurz gerieten hier durch dünne Kerzenwachsstäbchen die Fesseln der Macht, der Leere und die Fußangeln der Manipulationen ins unsichtbare Flackern, um nur momenthaft außer Kraft zu scheinen, um einer Stille Platz zu machen, für die dieses Jahrhundert vergeblich alles aufbrachte, um sie zu übertönen. In diesem dumpfen und dann wieder hellen Gesang einer fremden alten Sprache wurde man wieder zu einem Kind, das nichts verstand und doch jenseits der Worte alles begriff, mehr als das sonst das Labyrinth der gekrümmten Gehirnwindungen zuließ. Nicht in den Gesichtern der bärtigen Popen, die mehr oder weniger beflissen oder monoton alltäglich den Ritus vollzogen, in den Gesichtern der Hilfesuchenden,  Zerlumpten,  Verzweifelten, in den offenen Augen der Stummen, den gänzlich verhüllten der Betenden, die nur manchmal kurz aufsahen,  sah man das wahre Antlitz der Ikonen wieder, dessen  Frieden von einer anderen Welt zu kommen schien, unvereinbar allem irdischen Prunk und Glanz, ein Friede der doch nur aus dem Scheitern heraus seinen Glanz nahm. Fremde Gesichter, unbekannte Heilige traten so aus dem Dunkel der Gewölbe hervor, Gesichter, über die das Kerzenlicht und die Schatten hinwegzogen, und gruftartig schien der ganze Kosmos eingewölbt in diesen Kuppeln der Kirche, die im Innern ganz übersät waren von den im Dunkeln matt leuchtenden Bildern, von Fresken und alten Farben, bebilderte Seiten einer unbekannten Heiligen- und Kirchengeschichte auf altem byzantinischen Gold.  Man schien selber in das Dunkel der Geschichte hineingewölbt zu sein. Mit ehrfürchtig geneigtem Kopf. Und anders als in den westlichen Kirchen schien hier im Osten das Tageslicht verbannt worden zu sein, und es schien ein anderes Licht, fast fensterlos zu den Kompromissen des Tags, hier zu leuchten, das alte Licht aus dem Stall von Bethlehem. Nicht Sonne und Mond, die Sterne nicht und auch kein Neon, hier schimmerte auf noch das Gold selber, das wohl einst mit Weihrauch und Myrre die drei Weisen aus dem Morgenland, diese Sternensucher, Magier und Könige dem göttlichen Kind in seiner dürftigen Behausung darbrachten als Geschenk und in der Hoffnung auf eine andere Zeit und ein anderes Weltalter. Und von hierher schien noch ein kindlicher Glanz, silbern und goldene Lichtfäden eingeflochten den bärtig struppigen hohläugigen Gesichtern der Patriarchen, die weniger durch die Last ihres Kopfes, sondern durch das Leuchten ihrer Augen wohl Anteil hatten an der uns allen unfaßbaren Gnade. Wir waren machtlos dieser Fülle der stillen Erleuchtung gegenüber. So machtlos, die wir doch in der Grelle unserer Medien schon längst überblendet waren,  daß wir wiederum frei waren, sie auch leugnen zu können. Wir waren hier nicht in einem verstaubten Museum der Kirchengeschichte angelangt, das Licht es leuchtete noch immer. Die Kerzen, sie brannten. Das Licht aber leuchtete von innen. Es war die Unbekümmertheit der einfachen Leute hier, alt und jung, mehr Frauen als Männer, ihre Zwanglosigkeit und ihre Selbstverständlichkeit, die nicht nur kollektiv Andacht erzeugte, sondern uns den Zugang zu uns selbst öffnete. Irgendwas in uns muß noch Seele sein.

 

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