Vogelmensch und neue Welten

 

                                                       Genua

 
   
   

   

 

 

Es war in der Zeit, als die Lyrik schon abgestorben war.

 

Auch Sprachen sind Lebewesen, denen der Tod irgendwann begegnet.

 

Sie ersticken dann oder häuten sich und finden zu neuem Atem.

 

Müssen jedoch alle Glätten und Hüllen ablegen.

 

Jeder Neubeginn einer Sprache geht vom völligen K.O. aus, vom Boden, vom Niedergetrampelt- , Aussortiertwerden, von Grund auf, vom Abseits.

 

Aus der Peripherie belebt sich das Zentrum, das obwohl es propagiert, völlig erloschen schon ist.

 

Noch so dick aufgetragen helfen die dünnen Schichten einer Medien- und Bewußtseinsindustrie nicht mehr.

 

Im Innern fühlt jeder sich allein, das was er ist, was nur noch übrig geblieben,  totes Etikett und Design.

 

"Sprachdrähte" verrostet.

 

 
 
   

   
 

 

 

Blödigkeit hat ihr Terrain dann längst abgesteckt.

Aber selbst das Bespitzeln, Evaluieren macht den Blockwarts keinen Spaß mehr, wo jeder doch so wird wie der andere.

 Die Therapeuten haben die Hände voll zu tun und die Köpfe leer.

 Kinder bekommen noch immer Schokoladenherzen geschenkt.

Sattheit macht nicht mehr satt, aber auch hungrig nicht mehr.

 Die eigene Zeit eigentlich nicht mehr zu ertragen, zu wissen, auch wenn es sich nicht einzugestehen, daß dies, die eigene Zeit, längst schon abhanden gekommen.

 Wo der Konflikt schmerzhafter gespürt wird, in der Psychiatrie, wo vergeblich fremde Auszeit man sich zu nehmen scheint, wird zur normalen Nichtzeit wieder runterdosiert.

 Das Schweigen auszuhalten, das sich dem Tod der Sprache stellt und diesen nicht verleugnet.

 Im scheinbaren Nichtwissen das Wissen ruhen zu lassen um all die Flüchtigkeit der Kriterien.

 Überheblichkeit und Arroganz ist für immer dahin, die Triebfedern der Karrieren in den Institutionen.

 Aber eine neue Freiheit ist präsent in der Stille.

 Eine Empfindsamkeit, sei es Verletzbarkeit auch, die sich durch nichts mehr rauben läßt.

So zäh, unbeugsam, unbrechbar ist der Schritt in das Wagnis, das nun Leben ist und nicht berechnend mehr hinschaut , ob es abgrundtief oder banal oberflächlich in der Schwebe ist.

 Aber es ist abseits aller Heuchelei.

 Es verkauft nicht mehr etwas, was es nicht ist.

 Die Etikette und Konfessionen kleben nicht mehr.

 

 
   

   

 

Es war in dieser Zeit, die eben keine Jahreszeit kennt, weil sie immer stattfindet und schon immer stattgefunden hat, als er diese Stadt betrat.

 Diese Stadt am Meer, von der er keine Ahnung hatte.

 Das heißt, auch keinerlei Erwartungen hatte. Oder andere Informationen.

 Ob es eine Rolle spielte, daß er nach langer Zeit einen Gedichtband mal wieder las, den man ihm zeigte, dessen Autor im Großverlag schon verstorben.

DemZeitgeschmack waren alle Opfer dargebracht worden, die richtigen Widmungen, Zitate, Orte. Gegen die Verklemmung sind die Gedichte genau diese geworden.

 Ein Gedicht ist Spracharbeit ja. Aber nicht nur Sprache. Atem und Funke auch darin. Auseinandersetzung, Erfahrung und Denken auch. Ein Gedicht arbeitet.

 Ein Gedicht ist genau diese Arbeit, die stets unkontrolliert in einem Leser stattfindet. Einem Leser, der noch nicht geblendet ist und sein eigenes Urteil sich zutraut, naiv, kritisch, unverschämt. Dieser moderne Gedichtband sprach für den Tod der Lyrik, auch wenn der Klappentext das Gegenteil propagierte.

 Ein Gedicht ist Wahrnehmung. Sonst nichts.

 Es hat vielerlei Augen. Eigene, gesellschaftliche, mythische, sichtbare und unsichtbare.

 Es kriecht, schwimmt, fliegt.

 Es imitiert den aufrechten Gang.

 Es läßt sich durch kein Kriterium einfangen.

 Es ist nicht schulbar, ungeeignet für Rezepturen.

 Eine unzähmbare Kraft, die im Tod der Sprache , im Scheitern Atem gefunden ohne zu wissen warum und woher.

 Atem ist die Arbeit des Gedichts.

 Sonst blühen die weißen Kirschblüten nicht.

 Die Wirklichkeit des Gedichts, wo findet sie statt, wer weiß das zu sagen ?

 Hochgepriesene Happenings ohne jegliches Glück.

 Wo ist der Raum für ein Gedicht noch ?

 Die Einsamkeit der Leere ?

 

 
 
   

   
 

 

 

Er hatte diesen Gedichtband, dessen Spracharbeit ihn durchaus auch faszinierte, schon vergessen, als er die Stadt betrat, die er nicht kannte.

 Er war nicht auf der Suche nach irgendetwas,  er fand nur.

 Wurde beschenkt nur. Warum ?

 War es das Heiligenbildchen, das der Bettler ihm gab ?

 Nein, eher wie er angesehen, angelächelt wurde von einem Baby, einem ganz kleinen Jungen, so intensiv, so vorbewußt, instinktiv, er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht.

 Der Junge schaute ihm so in die Augen, so fasziniert, so erfreut lächelnd, daß selbst seine Träume in der nächsten Nacht voll glücklicher Begegnungen waren.

Liebe, wann immer sie stattfindet, muß etwas von diesem Kinderblick haben.

 Dieser ungebremsten, ungeschützten, offenen Wahrnehmung.

 Geht sie uns verloren ?

 Was sah das Kind in ihm, was er nicht nachempfinden konnte ?

 Er fühlte nur, sich sehen war hier ein sich schenken.

 Dieses Kind schenkte ihm eine offene Wahrnehmung für diese fremde Stadt.

 Die pulsierte, lebte, pochte.

 Die nicht eine Stadt war, scheint's, sondern mehrere. Unter- und Oberstadt. Oder eine Stadt in verschiedenen Zeiten. Deren Teile er gar nicht dazu kam, alle zu betreten. Nie hatte er einen Film über diese Stadt gesehen und es kam ihm bisweilen vor, als sei diese Stadt selbst ein Film

 
   

   

Ein Film, der Jahrhunderte durchwanderte.

 Zum Hafen kam er gar nicht.

 Von Ferne sah er nur dort ein Schiff aus dem 15. Jahrhundert neben modernen Krananlagen, Motorjachten und Werften.

 Das Meer atmete in dieser Stadt.

 Bis in jeden Winkel hinein spürte man, daß man in einer Hafen- und Weltstadt war, einer Metropole, die gespeist wurde von allen fernen Ecken der Welt.

 Menschen verschiedener Länder und Sprachen eilten zwanglos aneinander vorbei.

 Mächtige Herkulesse, gewaltige Kolosse aus Stein, Atlanten trugen die Warenhäuser verschiedener Herkunft.

 Ebenirdisch war nur der große orientalische Markt.

 Glaspaläste spitzten sich zu an riesigen Plätzen, die zentral von einem alabasternen Springbrunnen beherrscht wurden.

 Durch Tunnelröhren gelangte man zu den verschiedenen Teilen und Zeitschichten der Stadt.

 Und war doch alles jetzt.

 Eine Zeit.

 Die Festung oben. Die Banken, Theater und Universitäten. Das Aquarium. 

Und dann jenes kleine Haus, in dem einer geboren sein soll, der eine ganze Welt entdeckte. Eine neue.

 Als die alte scheinbar schon im Absterben lag, jedenfalls seine neue Welt setzte diese Stadt für immer in den Schatten. Ihre Bedeutung. Ihre Macht.

 Und doch überlebte sie.  Ihr Labyrinth. Ihre alte Hafenstadt. Steinernes Wabennest aus lauter kleinen Gäßchen. Oder war es der Versuch einer frühen Kultur, in einem System aus dunklen hohen Schächten und Gassen die Sonne einzufangen ?

 
 
   

 

   
 

 

Eine Siedlung ?  Nein, ein Spinnennetz der Bebauung, dicht und eng gestrickt, durch das die Ratten huschten und an dessen dunklen Eingängen dem Hafen zu die Frauen der Lust warteten.

 Die Unterstadt, die die eigentliche Stadt wohl für Jahrhunderte war, als die Prachtpaläste der Barockzeit sie noch nicht umklammerten, hatte nur wenig freie Plätze, auf denen dann Dome und Kirchen stolz aufragten oder an zentralen Häuserfassaden dann immer eine Uhr angebracht war, so verlassen in der Wand, daß man die Zeit, die sie anzeigte, nicht für Realität hielt.

 

 
   

   
   
   
   

   
   
   

   
   
   

   
   
   
   

 

 

 

 

Auf einen dieser Plätze vor dem Dom ruhte er sich aus auf der Außenterrasse eines Cafés.

 

Gern hätte er aber noch die dunklen schmalen und doch bedrohlich häuserhohen Gäßchen durchspäht, aber seine Begleitung hatte sich geweigert weiter zu gehen, weil ätzender Geruch, Dunkelheit, vorbeihuschend wartende Frauen und eine tote Ratte den Weg zu versperren schienen.

 

 
 
   
   

 

 

 

 

 

Kolumbus hier aufgewachsen hat bestimmt als kleiner Junge so eine Ratte in die Luft geschleudert, ehe er später eine neue Welt entdeckte, von der er noch dachte, es sei die bekannte alte nur.

 Der neue Kontinent war mehr als einen Rattenwurf entfernt.

 Welcher Wechsel hier von diesen engen Gassen  und der Weite des Meeres dann.

 Oder lernte man hier schon, in der bedrückenden Enge der Schiffsräume auszuharren und zu verweilen.

 Was brachten die Männer von den fremden fernen Meeren und Ländern mit ?

 Fanden sie hier wieder zurück ?

 Nähe wieder in den Armen der auf sie wartenden Frauen ?

 Die Weite der Welt verlor sich in der Enge der Gassen hier.

 Ratten verlassen bekanntlich als letzte das sinkende Schiff.

 Er hatte keine Angst vor dieser toten Ratte, die fett ihr Leben hinter sich hatte und auf dem Pflaster nun in der Hitze und Schwüle  ihrer Auflösung entgegen ging.

 Das Baby, der kleine Junge, der ihn anfangs angelächelt hatte, hatte ihn verzaubert, vor nichts sich zu fürchten oder angeekelt zu sein.

 

Das Baby und die Ratte. Er erinnerte sich an einen Freund oder war es mehr Feind, dem ein schwarzer Fleck an der Stirn wegoperiert wurde als Baby. Ein großes schwarzes Muttermal, ein Rattenbabyfleck. Seine Mutter war der festen Überzeugung, der Fleck sei in dem Moment entstanden als im Garten sie eine Ratte gesehen und sich erschreckt habe . Der Vater, der aus der Kälte Stalingrads als Fremder fast kam, auf einem Auge blind, hat weiß Gott, anderes gesehen.

 

Nun, weiter als zur toten Ratte ging man nicht und so kam es zur Pause vor dem Dom an den dort draußen stehenden Caféhaustischchen.

 Auszuruhen, Durst zu löschen und eine Pizza kennenzulernen, die schon bewundernswert mißlungen war.

 
 
   

   
   
 

 

Da begegnete er dem Vogelmenschen. Den er zuerst gar nicht sah. Im Rücken von ihm saß er am Nachbartisch. Aber er hörte ihn. Fasziniert hörte er ihn. Ehe er, unbemerkt so gut es ging,  zufällig eher sich gebend, umwandte und ihn erblickte, aber so gleichgültig als nehme er ihn gar nicht wahr.

 Nie hat er einen Menschen vorher so sprechen gehört. Vogelbeermensch nannte er ihn für sich spontan. Es war die Sprache der Vögel und doch nicht diese. Laute, die er nie vorher vernommen. Eine neue Welt von Artikulationen. Jenseits der bekannten Vokale und Konsonanten.

 Ein fremde ferne Musik. Nicht einzuordnen. Kein Raster der Vorwahrnehmung.

 Es war keine menschliche Sprache und doch von einem Menschen artikuliert, hervorgebracht leicht und wie selbstverständlich.

 Es hatte nichts zu tun mit diesen Verrenkungen absterbender Poesie, leere Töne seniler Greise, Slam und Gerappe, Lautmalerei in Blödigkeit wie sie immer mehr in Kurs war.

 Auf dem Tablett serviert, egal in welchem Studio oder Stadt immer dasselbe Gespauze, Geschnalze, Geschnatter, weil im Kulturbetrieb an Sinn nichts mehr übrigblieb aufhorchen zu lassen als nur das narzißtische Lippengezucke.

 Nein, es war eher virulent, mikrobenhaft ohne jegliche Absicht

 In Litauen hatte er selbst mal mit dem Dichter Antanas Jonynas eine fremde Sprache versucht, Majakukisch, aber die shier übertraf alle bisherigen Hörgewohnheiten.

 Zufällig am Nachbartisch auf offenem Platz in dieser Hafenstadt, die soviel fremde Sprachen anzog, soviel Fremdes einfing, Papageienfedern, Walfischknochen, Amulette, Talismane, chinesisches Porcellan.

 

 

   
   

   
   

 

 

Was war das für eine Sprache, die der Vogelmensch sprach ?  Gehörte er zu einem fernen abgelegenen Bergvolk, die sich über tiefe Täler hinweg so miteinander verständigten ?

 Oder war es gestört, krank, irr ? Jenseits aller Kommunikation bei aller Variationsvielfalt auch.

 Es war nicht zu entscheiden.

 Einem Gestörten und Behinderten hätte der Wirt sich gegenüber anders verhalten.

 Der Wirt wurde gerufen, weil mit der Bestellung etwas nicht in Ordnung war und weil  wohl  Geschmack und Zubereitung der Pizza genug Anlaß zur Reklamation bot.

 Der Vogelmensch war in Begleitung zweier Frauen, aber er führte die Kommunikation.

 Der Wirt war ihm gegenüber voller Respekt, keinerlei Anlaß, daß er ihn nicht verstand, was völlig unverständlich im Hören vom Nachbartisch aus war.

 Der Vogelmensch hatte ein caesarisch scharf geschnittenes südländisches Gesicht, trug eine goldene Kette um den Hals, goldenes Armband auch, fiel aber ansonsten nicht auf. Seine Kleidung war gepflegt, aber nicht auffallend.

 

 

 
   
   

   
 

 

 

Niemand außer ihm nahm wohl seine Besonderheit wahr. Hörte nur er seine Vogelsprache, seine wahre Sprache ?

 War der Vogelmensch nun ein Irrer, der nach einer komplizierten Kehlkopfoperation wohl zu neuer Sprache gelangt war, war er ein Rattenfleckbaby auch, das durch eine besondere Schule zu einer Sprache gelangt war oder war er ein Schamane, Zauberer, Trickser, Rattenfänger ?

 Fasziniert war er, Laute zu hören, die er nie vorher gehört hatte, und zwar nicht extra betont, keinerlei unerträglichem Schauspielerschwulst, sondern selbstverständlich, eher im nebenbei, wie zufällig, banal, wie völlig unauffällig normal. Und war doch alles andere als normal. So müssen Vögel sprechen, sind sie Menschen.

 Flug war in dieser Sprache eingebettet, das spürte er, Ferne und doch gefundene Nähe.

 In dieser Sprache vermochte man das Schwingen der Flügel zu hören, das in Gestik und Emotionalität dieses Mannes ungebrochen langsam weiter dahingleitete.

 

 
   

   
   

 

Ein Baby, eine Ratte und ein Vogelmensch. Diese alte und immer wieder neu vibrierende alte Hafenstadt beschenkte ihn reich. Begrüßte ihn mit einer neuen, noch nie gehörten Sprache.

 So begegnet man Gedichten. Nicht in Büchern. Sondern an Nachbartischen.

 Gedichte, die wie eine schwarze Fliege sich auf den Monitor oder den Kuchen setzen.

 Wer will entscheiden, ob der Vogelmensch irr oder seine Artikulation verständlich ist ?

 In den Käfigen, in denen wir hausen, nicht nur die engen bedrohlichen kleinen Gassen, sondern auch die Bespitzelungssysteme vermeintlicher Evaluation und Leistung, wie tote Ratten liegen da die Vogellaute ungekannter Freiheit.

 Wer durchgeschleust wird durch die Module der Verschulungen als Administrator, Admiral der Systeme darf er dann als Theologe, Soziologe, Therapeut das Dunkel der Gassen aufklären, Kehricht und Material, Menschenmaterial, Krankengut auch, zu entschädigen versuchen.

 

 

 

 

 

 

 

 
   
   

   
   
 

 

Aber nur die Enge der Gasse kennt die Freiheit der Meere.

 

Nur in der Seele, in einer noch unzensierten, ungebremsten Sprache tauchen sie auf, die neuen nie gekannten Kontinente.

 

   
   

   
   

zurück zu Foto/Text